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Was ist eine Lernplattform? Ein Erklärungsversuch.

Quelle: Alexander Rentsch, 2021

Durch die Corona-Situation und den damit verbundenen Einschränkungen für den regulären Schulbetrieb hat sich die Entwicklung digitaler Lehr-Lerninfrastruktur in Deutschland enorm beschleunigt. Nach eigenen Angaben verfügen 55% aller Schulen offiziell über technische Strukturen zur Durchführung digitaler Lehr-Lernszenarien (Stand: Juli 2020). Damit konnte dieser Wert seit April 2020 um 35 % Prozentpunkte gesteigert werden (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2021: S.18). Aber was genau macht eigentlich eine Lernplattform aus?

Um die Aussagekraft solcher Angaben bewerten zu können, sollte man wissen, dass Begriffe, wie „Lernplattform“, „Lernmanagementplattform“ oder „E-Learningplattform“ keiner klaren Definition und einheitliche Vorstellungen von deren Funktionen unterliegen. Dass führt u.a. dazu, dass in der Öffentlichkeit sehr emotional über Microsoft-Produkte, wie „Teams“, in Schulen diskutiert wird, obwohl diese Software sehr wenige (aber wichtige) Einsatzbereiche im Sinne der Lehre und des Lernens abdeckt. In der besagten Studie wird konkret nach vorhandenen Lernplattformen oder Lernmanagementplattformen, kurz „LMS“, gefragt. Eine Abfrage, wie diese qualitativ, etwa durch die Bereitstellung von Lernfortschrittskontrollen, oder quantitativ, z.B. in wie vielen Fächern, eingesetzt werden, wurde nicht vorgenommen. Wie können wir demnach ein präzises Vorstellung davon bekommen, was eine Lernplattform eigentlich ist, ohne ähnliche Systeme nicht auszuschließen und dadurch Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft zu missachten?

Vierstufenmodell: Didaktik, Organisation, Integration und Entwicklungsoffenheit

Eine mögliche Vorgehensweise ist die Anwendung eines Vierstufenmodells, dass ich im Rahmen meiner Beratung von Bildungseinrichtungen ausgearbeitet habe, um die unterschiedlichen Anwendungs- und Entwicklungsbereiche zu verdeutlichen. Diesem zufolge können Lernplattformen anhand bestimmter Basisfunktionen in ihrem Funktions- und Implementierungsumfang kategorisiert werden.


Stufe 1: Didaktik als Fundament einer unmittelbaren Unterrichtsgestaltung

Eine Lernplattform ist in ihrem Kern ein gut organisiertes Klassenzimmer. Entsprechend des Stufenmodells greift hier die Ebene der Didaktik:

  • Unterrichtsmaterialien können bereitgestellt,

  • Aufgaben und Termine organisiert,

  • Lehrende und Schüler*innen miteinander in den Austausch treten.

Dabei obliegt es der Lehrkraft, welche Funktionen und Medien, sie innerhalb ihrs Kurses bereitstellt. Alle in dieser Zusammenstellung aufgeführten Produkte ermöglichen eine lehrendenzentrierte Kursgestaltung, in der die Schüler*innen nutzen und bearbeiten können, was ihnen von der Lehrperson bereitgestellt wurde.

Die wesentlichen Funktionsmerkmale dieser Ebene, sortiert nach der Häufigkeit ihres Einsatzes (gemäß eigener Datenerhebung) sind:

  • Dateiablage in beliebigen Formaten,

  • integrierte synchrone und asynchrone Kommunikationskanälen, wie Foren; Videokonferenzen; Chats,

  • Aufgabenbereitstellung inkl. Abgabefunktionen

  • Tests und Lernfortschrittskontrollen, Gruppen und Terminplanungsinstrumente.

In Deutschland aufgrund der DSGVO-Verordnung nicht weit verbreitet, im internationalen Umfeld, z. B. in den Niederlanden und England meist Standard, sind zusätzlich Funktionen aus dem Bereich der Learning Analytics, z. B. Lernpfadanalysen, Anwesenheitsmonitoring und Aktivitätsbewertungen.


Stufe 2: Organisationsfunktionen im Sinne einer Schulverwaltung

Die zweite Stufe „Organisation“ betrachtet die Funktionen als Management- bzw. Verwaltungsplattform, analog dem Bild einer Schulverwaltung:

  • Bietet die Lösung Möglichkeiten der Klassen- und Klassenraumverwaltung?

  • Schafft sie Routinen zur Archivierung von Arbeiten der Schüler*innen, zum Beispiel um Einsichtnahmen bei Klassenarbeiten sicherzustellen?

Für diese Stufe sind die folgende Funktionen grundlegend:

  • Kursmanagement inkl. Archivierungs- und Kopierfunktion,

  • Nutzer*innenadministration,

  • das Führen von Klassenstatistiken

  • Benotungsmöglichkeiten


Stufe 3: Integration in die Strukturen der Bildungseinrichtung

Die dritte Stufe betrachtet die Möglichkeiten der Integration in die Daten-, Prozess- und IT-Infrastrukturen der Schule(n):

  • Verfügt die Lernplattform über Schnittstellen zu bestehenden Verwaltungsdiensten, etwa zur automatischen Erstellung von digitalen Klassenräumen und Zuordnung von Lehrenden und Lernenden in den entsprechenden Rechteklassen?

  • Können Bewertungen aus dem Unterricht direkt als Note verbucht werden?

  • Lassen sich schulinterne Prozesse abbilden und berücksichtigen?

Bisherige Implementierungsprojekte haben gezeigt, dass die Akzeptanz von Lernmanagementplattformen weniger von der Funktionsvielfalt, als von der Passung zu bestehenden Systemen abhängig ist. In einem vom Autor begleiteten Implementierungsverfahren konnte die Nutzung der einrichtungsinternen Lernplattform von 120 auf 780 Kurse in einem Jahr gesteigert werden, indem digitale Kursräume von den Lehrkräften selbst per Anbindung an die zentrale Verwaltungsdatenbank mit nur wenigen Klicks erstellt werden konnte. Gleichzeitig wurde durch diese aktive Einrichtung der Kurse verhindert, dass “leere” Kurse auf der Plattform bereitgestellt wurden. Diese sorgten in der Vergangenheit immer wieder für schlechte Stimmung unter den Lernenden, weil Materialien nicht gefunden oder Lehrende über die Plattform nicht erreicht werden konnten.

Um eine nahtlosen Austausch (eine so genannte “Interoperabilität” zu ermöglichen, sind die folgenden Funktionen grundlegend:

  • Übernahme von Kurs- und Nutzer*innendaten aus zentraler Schulverwaltungssoftware,

  • Anbindung an weitere technische Dienste, wie z.B. ausgelagerte Streaming- und/oder Cloudserver

  • Berücksichtigung von Single-Sign-On, damit sich die Nutzer*innen nur einmal in allen System anmelden müssen

  • Verschlüsslungsverfahren u.a. zur Berücksichtigung der DSGVO-Vorgaben.

Stufe 4: Entwicklungsoffene Softwarearchitektur

Auf der vierten Ebene wird betrachtet, wie entwicklungsoffen und modular das Produkt in seiner Architektur ist. Hier gibt es aktuell drei grundlegende Entwicklungsrichtungen:

1. (Nationale) Anbieter, meist aus den Geschäftsbereichen von Netzwerktechnologien, Cloudspeicher, Hosting, Office- oder Projektmanagement, erweitern ihre Geschäftsbereiche durch die Anpassung bestehender Lösungen in Richtung „Lehr-Lerninfrastruktur“. Übliche Entwicklungsschritte sind hier: die Etablierung von Dateiablageoptionen sowie die Einbindung von Kommunikationskanälen. Durch bereits existierende Rahmenverträge mit Schulen werden diese Angebote als Zusatz, meist mit geringen Mehrkosten, in kommunalen Schulträgern etabliert. Durch die Eigenentwicklung und Implementierung neuer Funktionen, zum Beispiel Videokonferenzsysteme und Klausur- bzw. Testumgebungen, werden die Kosten im Nutzungszeitraum, meist über Staffelverträge zunehmend erhöht.

2. (Überregionale) Anbieter mit plattformökonomischen Geschäftsansätzen widmen sich von Beginn an einer nutzerzentrierten Weiterentwicklung ihrer Kernsysteme. Durch Entwicklungs-Know How, einer guten überregionalen politischen Vernetzung und professionellen Vermarktungs- und Etablierungsmechanismen stehen hier Wachstumsinteressen über kurzfristigen Profitbestrebungen.

Beide bisher vorgestellten Anbieterstrategien sind auf die vertiefte Integration individueller Lösungen in die bestehende Infrastruktur von Schulen und Weiterbildungsanbietern ausgelegt. Durch dessen Verbreitung steigt auf der einen Seite die Interoperabilität zwischen den Plattformen und ihren Derivaten, andernfalls auch die Abhängigkeit von den jeweiligen Anbietern und dessen Preispolitik.

3. Lernplattformen, die sich international erfolgreich aufstellen konnten, basieren auf Open-Source-Entwicklungen. Modulare Entwicklungsleistungen, die ein bestehendes Kernsystem durch aus der Nutzergruppe gewünschte oder regional benötigte Funktionen und Applikationen erweitern, sichern schnelle Entwicklungs- und Anpassungszyklen. Am Markt agierende Dienstleister, die regional notwendige Anpassungen der Systeme vornehmen können, bieten eine gesunde Angebotsvielfalt und verhindern so Monopolentwicklungen und dominierende Plattformstrukturen.

Quelle

  • Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2021): JIM-Studie 2020 - Jugend, Information, Medien, [online] https://www.mpfs.de/studien/?tab=tab-18-1 [20.01.2021].


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