Von der Lernplattform bis zur Umgebung für zeitgemäßes agiles Projektmanagement: Ideen für eine ganzheitliche Lehr-Lern-Infrastruktur
Die Umstellung auf eine überwiegend in Distanz durchgeführte Lehre verlief im vergangenen Jahr an Hochschulen überraschend problemarm. Ein Grund: viele Hochschulen konnten bereits auf ein solides digitales Ökosystem für das Lehren und Lernen zurückgreifen, anders als die Mehrzahl der Schulen. In diesem Artikel möchte ich die digitalen Komponenten eines wirksamen Ökosystems vorstellen und begründen, warum der parallele Einsatz separater Landeslösungen kein Entwicklungsnachteil für die deutsche Bildungslandschaft sein muss.
Die Idee eines umfassenden Lehr-Lern-Ökosystems
Um individuelle Vorstellungen zu entwickeln, was digitale Technologien für den Unterricht leisten können, sollte dem Lehrpersonal ein umfassendes Ökosystem geboten werden. Durch Ausprobieren, den Austausch mit anderen Lehrenden und gezielte Weiterbildungsangeboten entstehen so Jahr für Jahr bessere Szenarien für digitale Unterrichtsformen. Die technische Basis, ergänzt durch professionelle Supportstrukturen, ist für dieses Vorgehen gleichzeitig Grundlage und Gelingfaktor.
Moodle: Das Lern-Management-System im Zentrum aller Aktivitäten
Im Mittelpunkt eines zeitgemäßen Ökosystems steht das Lern-Management-System, in meinem Fall konkret die Open-Source-Anwendung Moodle. Sie liefert die Funktionen für alle kommunikativen, organisatorischen und inhaltlichen Prozesse, die Lehrenden und Lernenden für ein gestaltendes Miteinander benötigen. Durch ihren Aufbau, der sich stark am zeitlichen oder thematischen Ablauf eines Präsenzkurses orientiert, bietet sie Lehrenden einen Überblick über den Verlauf der eigenen Lehrveranstaltung. Lernende finden dort Unterrichtsmaterialien, Aufgaben, Vortragsthemen sowie Funktionen der direkten Kommunikation.
BigBlueButton: Die Online-Meeting-Umgebung für nahbare Lehrerfahrungen
Für eine synchrone, ortsunabhängige Lehre wird eine Online-Meeting-Software benötigt. BigBlueButton bietet alle grundlegenden Funktionen zur Gestaltung eines abwechslungsreichen Unterrichts: Kamera- und Bildschirmfreigabe, spontane Umfragemöglichkeiten, die Organisation von Gruppenarbeiten, so genannte Breakoutsessions, und das Abspielen externer Medien, zum Beispiel in Form von YouTube-Videos.
Mit Hilfe der Bildschirmaufzeichnung können in BigBlueButton außerdem Screencasts und kurze Veranstaltungsmitschnitte produziert und urheberrechtskonform bereitgestellt werden. Direkt in Moodle als so genannte "Aktivität" eingefügt, sind die erstellten Online-Meetings und Aufzeichnungen nur den direkten Klassen bzw. Seminarteilnehmenden datenschutzkonform zugänglich. Wenn Online-Meetings auch ohne Moodle-Zugang angeboten werden sollen, kann BigBlueButton als externer Service direkt über eine eigene Webseite verfügbar gemacht werden. So können auch externe Interessenten, meist unter Eingabe eines Passwortes, an Lehrveranstaltungen teilnehmen.
In den Anfangszeiten des Einsatzes von BigBlueButton wurde immer wieder kritisiert, dass die Software instabil läuft, Ton- und Videosignale immer wieder unterbrachen. Mit steigender Verbreitung und damit verbundenen Verbesserungen der Software wurden die zugrundeliegenden Probleme erkannt und behoben.
Ich ziehe die Verwendung von BigBlueButton allen anderen OnlineMeeting-Diensten, einschließlich Zoom, vor. Eine einfache Umgebung, die nach dem „Aldi-Prinzip“ alle grundlegenden Funktionen für einen abwechslungsreichen Unterricht bereitstellt, ohne den Lehrenden zu überfordern.
NextCloud: Das Filesharing-Angebot für produktive ressourcenschonende Zusammenarbeit
Um große Dateien in unterschiedlichen Formaten bereitzustellen und über mehrere Geräte zu synchronisieren, sollte das Ökosystem um eine so genannte Nextcloud ergänzt werden. Die OpenSource-Alternative zu OneDrive oder DropBox ermöglicht es zum Bespiel Dateien und Ordner per Link mit anderen zu teilen oder in einen Moodle-Kurs einzubinden. Außerhalb von Moodle kann jeder Lehrende seine Dateien über Nextcloud eigenständig verwalten und über verschiedene Geräte, wie Rechner und Smartphone, synchronisieren. Für den Unterricht gestaltete Inhalte können so direkt in der Klasse aufgerufen und sofort mit den Anwesenden geteilt werden. Diese Art der Nutzung ist auch direkt aus Moodle heraus möglich. Sollen die Lernenden Änderungen an den Dokumenten vornehmen, schafft die NextCloud eine Möglichkeit des gemeinsamen Arbeitens an Dateien. Auch andere Einsatzbereiche, wie zum Beispiel die Schulorganisation oder die gemeinschaftliche Arbeit an Projektanträgen, können so datenschutzkonform unterstützt werden.
OpenCast: Der Videoserver als Youtube-Alternative und Streaminglösung
Viele Lehrende produzieren als ersten Schritt ihrer digitalen Lehre Videos, etwa um Selbstlerneinheiten aus bestehenden Präsentation anzufertigen oder Bildschirmaufzeichnungen für Tutorials zu erstellen. Medien dieser Art benötigen viel Speicherplatz und sorgen beim direkten Hochladen in Moodle für Probleme, etwa wenn Kurse nur bis zu einer gewissen Speichergröße richtig gewartet oder auf den mobilen Geräten der Lernenden angezeigt werden können.
Ein Videoserver bietet die Möglichkeit, eigene Videos hochzuladen und in Lern-Management-Plattformen zu verlinken. Die Einbindung kann auch auf anderen Webseiten erfolgen. Ein Fachvortrag für eine Konferenz kann auf diese Weise per Link eingeschickt und direkt abgespielt werden. Externe Angebote, wie YouTube oder Vimeo, werden dadurch überflüssig.
Die Software OpenCast, ehemals Matterhorn, gilt als Standardprodukt zur Bereitstellung von Videos. Weiterhin verfügt sie über Funktionen, die auch das Streamen, also das direkte Wiedergeben von Veranstaltungen über das Internet ermöglicht. An Hochschulen zeichnet sich die Tendenz ab, dass Räume mit Technik fürs Streamen ausgestattet werden. Lehrveranstaltungen können so direkt ins Netz übertragen und die Anwesenheit vor Ort reduziert werden. Niederländische Hochschulen setzen zu diesem Zweck schon länger auf das Angebot der englischen Firma Panopto. Eine Software, die auf Basis von OpenCast mit weiterführenden Funktionen zur Produktion von Videos, etwa einem integrierten Recorder, ergänzt wurde.
Die perfekt Ergänzung für eine moderne Kommunikations- und Managementumgebung: Atlassian Confluence Wiki und Mattermost
Das bisher beschriebene Ökosystem deckt bereits einen Großteil aller Funktionen für eine moderne Lehr-Lernumgebung ab. Mit einer Education Installation des Confluence Wiki erhalten Lehrende, Lernende und Mitarbeitende eine moderne Arbeitsumgebung, um Projekte zu planen, EPortfolios anzulegen oder Fachcommunitys aufzubauen. In seiner Optik manchmal (aus meiner Sicht zu Unrecht) als altbacken kritisiert, bietet die weltweite Standardsoftware für nahezu jeden Einsatzbereich passende Funktionen, wie Aufgabenverwaltung, gemeinsames Arbeiten an Texten, internes Wissensmanagement und Blogfunktionen. Lernende können in dieser Umgebung unter Anleitung durch die Lehrenden reale (Online-) Kollaboration erleben und ausprobieren.
Als Möglichkeit der direkten Kommunikation und als Alternative zu Microsoft Teams und Slack kann die Software Mattermost bereitgestellt werden. Sie ermöglicht allen Lehrenden und Lernenden sich untereinander im Eins-zu-Eins oder in Gruppen, so genannten "Channels", zu organisieren und zu kommunizieren. Lerngruppen, Fachreferate oder Unterrichtsgemeinschaften können auf diesem Weg per Messenger in Kontakt bleiben, Links oder Inhalte teilen oder Abstimmungen organisieren. Fachbereichs- oder Lehrfachübergreifende Kommunikation wird so aktiv gefördert.
Single Sign-on: Ein Account für alle Dienste
Um ein System dieser Art zu etablieren, sollte der Zugriff per Single Sign-on erfolgen. Es existiert also ein Account, der für alle Dienste genutzt werden kann. Außerdem existieren für alle aufgeführten Anwendungen Schnittstellen, so genannte APIs, die den Zugriff aus dem zentralen System Moodle auf alle anderen Angebote zulassen. So können zum Beispiel auf OpenCast gespeicherte Videos mit einem Klick in Moodle integriert werden.
Die Bundesländer als individuelle Teilmärkte verstehen und Entwicklungschancen nutzen
In der Öffentlichkeit dominiert die Meinung, dass der Föderalismus, also die Autonomie jedes Bundeslandes zum Beispiel in Bildungsfragen, wichtige Veränderungen blockiert. Individuelle Landeslösungen, etwa der Einsatz von itslearning in Bremen oder LernSax in Sachsen, werden kritisiert, weil ein System im bundesweiten Einsatz einen vereinfachten Zugang und eine einheitliche Vorgehensweise ermöglichen könnte. Ich sehe diese Einschätzung skeptisch und setze lieber auf die Entwicklungsdynamik konkurrierender Länderlösungen. Im Coronajahr war zu beobachten, dass alle eingesetzten Systeme in ihrem Funktionsumfang, ihrer Stabilität und ihrem Einsatzgrad innerhalb kürzester Zeit viel besser auf die Bedürfnisse der Schulen und Hochschulen ausgerichtet wurden. Im Wettbewerb der Landeslösungen haben die verantwortlichen Institutionen und Anbieter enorm dazugelernt. Eine Belebung des Marktes setzte ein, in dem in 16 Bundesländern unterschiedlichste Produkte zum Einsatz kamen. Im Zuge der nun zu erwartenden Konsolidierung werden sich die Anbieter durchsetzen, die Funktionen weiter auf die Bedürfnisse der Zielgruppe ausrichten, am schnellsten eine Anbindung an bestehende Hochschul- und Schulinfrastrukturen ermöglichen (etwa durch die Verwendung von OpenLDAP) und möglichst zeitnah eine Grundfinanzierung ihres Geschäftsmodells erreichen. Anbieter, die auf die oben beschriebenen Open-Source-Produkte setzen, reduzieren ihren eigenen Entwicklungsaufwand. Öffentliche Einrichtungen, wie zum Beispiel Schulträger, verhindern durch die Präferenz von Open-Source-Produkten Anbieterabhängigkeiten, weil auch andere Firmen mit den Systemen arbeiten und dafür entwickeln können.
Daher hat die aktuelle Situation aus meiner Sicht das Potenzial einen neuen Markt an digitalen Lehr-Lern-Umgebungen in Deutschland zu schaffen: skalierbar, Open Source fokussiert und dadurch zukunftssicher.
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