Anfang der vergangenen Woche wurden die Projekte bekanntgegeben, die eine Förderung durch die neu gegründete Stiftung Innovation in der Hochschullehre erhalten. Mit Blick auf die geförderten Themen zeichnet sich ab, dass die Digitalisierung der Hochschule, mit all ihren Facetten, im Zentrum stehen wird. Vergleicht man die Entwicklung digitalunterstützter Lehr-Lernformate an Hochschulen mit den aktuellen Fortschritten an Schulen, behaupte ich, dass die technischen, didaktischen und organisatorischen Veränderungen mit einer gewissen Zeitverzögerung (etwa zwei bis fünf Jahre) auch die Schulen prägen werden. In diesem Artikel skizziere ich Phasen der Entwicklung digitaler Lehr-Lernstrukturen an deutschen Hochschulen und leite daraus Szenarien für den schulischen Verlauf ab.
Phase 1: Geliebte Nischenprodukte und erste kommerzielle Pilotprojekte
Bis etwa 2012 waren Lernplattformen überwiegend Nischenprodukte, die von Lehrkräften teilweise in Eigenleistung auf eigenen Servern und unterstützt durch studentische Hilfskräfte betrieben wurden. Erste Systeme, die auf diese Weise für Studierende angeboten wurden, waren verschiedene Moodle-Installationen. Hinzu kamen eine Reihe kommerzieller Produkte aus dem Unternehmenskontext, die für die Bedarfe von Hochschulen angepasst wurden. Internationale Anbieter, wie zum Beispiel der amerikanische Marktführer Blackboard, sicherten sich zu dieser Zeit in Deutschland große Referenzprojekte, um erste Schritte im möglichen Flächenmarkt zu unternehmen. Diese Kooperationen erwiesen sich nicht selten als schwieriges Unterfangen. Anfänglich geringe Nutzungszahlen trafen auf Lizenzverträge, die durch ihre gestaffelten Preise steigende jährliche Kosten mit sich brachten. Auch gab es unklare Verantwortlichkeiten beim Einbezug der Rechenzentren, die sich in der weiteren Entwicklung als entscheidende Akteure für den Erfolg von Lernmanagement herausstellen sollten.
Prognose für Schulen:
Durch die wiederholten Phasen des Distanzunterrichtes seit Beginn der Corona-Pandemie wurden in den Bundesländern große Entwicklungsanstrengungen für eine flächendeckende Bereitstellung von Lern-Management-Systemen unternommen. So verfügt jedes Bundesland über professionelle Systeme, deren technische Betriebsarchitektur mehrheitlich auf der Open-Source-Software Moodle aufbaut. Erweitert wird diese Entwicklung durch regional erfolgreiche kommerzielle Anbieter. Hervorheben möchte ich die Zusammenarbeit der Bremer Schulen mit dem Anbieter itslearning und die Aktivitäten der Firma iserv. Letztere hat ihren bestehenden Geschäftsansatz um grundlegende Funktionen einer Lernplattform erweitert. Mit Blick auf die Entwicklung an Hochschulen ist davon auszugehen, dass sich flächendeckend eine Struktur von eigenständig in den Bundesländern betriebenen Moodle-Lernplattformen durchsetzen wird. Lokal erfolgreiche Anbieter, also in den Kommunen betriebene Angebote, werden eigene Softwarelösungen mittelfristig durch angepasste Open-Source-Angebote ersetzen; zu groß wird sonst die Entwicklungsleistung für neue Funktionen und Schnittstellen zu Schulverwaltungssoftware. Erfolgreiche Kooperationen, wie itslearning in Bremen, werden sich ebenso halten können wie die vom Hasso Plattner Institut entwickelte SchulCloud. Diese befindet sich aktuell in der Übernahme des Geschäftsbetriebs durch Dataport. Ein Einsatz der Plattform als zentrales Angebot in Thüringen und Brandenburg wird wahrscheinlich, da die Länder sich bereiterklärt haben, den Betrieb sowie die Weiterentwicklung zu finanzieren.
Phase 2: Akzeptanzgewinn durch interne Förderprogramme und Leuchtturmprojekte
Gute Lehre lebt von konkreten Beispielen. So trug das Aufsetzen interner Förderprogramme in Hochschulen dazu bei, dass erste Leuchtturmprojekte im Bereich der digitalen Lehr-Lernformate entstanden. Aus dem Anspruch, diese Projekte dauerhaft in der Lehre zu etablieren, wuchs die Notwendigkeit für permanente Unterstützungsangebote auf technischer und organisatorischer Ebene. Hochschulleitungen und Rechenzentren begannen, Lernplattformen zentral zu hosten und Haushaltsmittel für deren Betrieb und Support bereitzustellen. Beispielhaft ist mir bekannt, dass eine Hochschule anfänglich für den Betrieb einer Lernplattform für 14000 Studierende eine halbe Stelle TV-L 10 und ein Hardwarebudget von jährlich 12.000 Euro aus zentralen Mitteln zur Verfügung gestellt hat. Ergänzt wurden diese Mittel durch die Verwendung zusätzlicher Fördergelder. Die Bereitstellung der Mittel und die Übernahme der zentralen Lernplattform war an einen vorherigen Konsolidierungsprozess gebunden, in dessen Verlauf bestehende Insellösungen in einzelnen Fachbereichen einem zentralen System weichen mussten. Diese Entwicklung erforderte viel Feingefühl und Kompromissbereitschaft, da gerade überzeugte Lehrende ihre Anwendungen, Apps und Plattformen mit viel Begeisterung und Herzblut betrieben hatten.
Prognose für die Schulen:
In den kommenden Monaten werden Kultusministerien und Kommunen interne Förderprogramme etablieren, um Lehrende bei der Weiterentwicklung ihrer digitalen oder hybriden Lehr-Lernformen zu unterstützen, interessierte Lehrende zu vernetzen und erste Entwicklungen zur Konsolidierung von in der Corona-Zeit angeschafften Angeboten anzuschieben. Damit dies gelingt, könnten Fördergelder an die Nutzung bestimmter Systeme oder die Zusammenarbeit mit bestimmten Institutionen gebunden werden. Es wird spannend, welche Rolle die in den Bundesländern angedachten Kompetenzzentren bei dieser Entwicklung spielen werden. Aktuell zeichnet sich ab, dass diese Kompetenzzentren keine neuen Institute werden, sondern in Form von zusätzlichen Ausbildungsmodulen bestehende Beratungs- und Ausbildungsstrukturen erweitern werden.
Phase 3: Erste Konsolidierungsphase
Für die Anwender*innen der Lernplattformen haben zentrale Systeme meist klare Vorteile. Sie sind technisch und organisatorisch mit den zentralen Hochschuldiensten verbunden, was klare Supportstrukturen und anwenderfreundliche Single Sign-On-Abläufe ermöglicht. Regelmäßige Weiterbildungen, zum Beispiel zum Anfang jedes Semesters, helfen gute Lehr-Lernszenarien zu entwickeln und im Semesterverlauf umzusetzen. Und letztendlich zählen klare Kostenargumente, die sich bei einer zu administrierenden Plattform ganz anders gestalten, als bei einem Parallelbetrieb mehrerer Angebote. Zum Beispiel können notwendige Schnittstellen zu zentralen Verwaltungslösungen günstiger programmiert werden, um Kurse einfacher anlegen und administrieren zu können. Letzteres kann als Meilenstein in der qualitativen Nutzung von Lernmanagementplattformen betrachtet werden, da Kursräume nun leicht erstellt, automatisch mit Kursteilnehmer*innen synchronisiert und aktuell gehalten werden konnten. Aus meiner Arbeitspraxis kenne ich ein Beispiel, in dem die aktive Nutzung der Lernplattform innerhalb eines Semesters von 125 auf 720 Kurse gesteigert werden konnte.
Viele Hochschulen haben die Mittel des Förderprogramms „Qualitätspakt“ (2011 bis 2020) genutzt, um ihre digitale Infra- und Betreuungsstruktur weiter auszubauen. Parallel konnte beobachtet werden, dass viele Hochschulen ihre Verträge mit kommerziellen Großanbietern zu Gunsten eigenbetriebener Open-Source-Anwendungen beendet haben. Zu groß scheinen die Bedenken, sich in ein Abhängigkeitsverhältnis mit unklaren Datenschutz- und Kostenstrukturen zu begeben. Gleichzeitig muss man bedenken, dass die hochschulinternen Rechenzentren für den Betrieb einer verlässlichen IT-Lehr-Lerninfrastruktur von entscheidender Bedeutung sind. Diese in den Gestaltungsprozess einzubinden und personell aufzuwerten, ist ein pragmatischer notwendiger Weg um eine dauerhaft leistungsfähige Infrastruktur aufzubauen.
Prognose für Schulen:
In den kommenden Jahren werden Schulen oder Kommunen auf kleinem Niveau technisch spezialisiertes Personal für die Wartung der IT-Lehr-Lerninfrastruktur und die Betreuung der Lehrenden etablieren. Ob dies über Rahmenverträge mit IT-Dienstleistern oder in eigenen Abteilungen (in sozialen Netzwerken liebevoll oder zynisch „digitale Hausmeister“ genannt) passiert, bleibt abzuwarten. Auch die dauerhafte Finanzierung dieser Strukturen wird ein interessantes Thema werden. Verfolgt man die aktuelle Entwicklung des „Mobile Device Managements“ (kurz: MDM) für die aus dem DigitalPakt Schule beschafften Geräte für Lehrende und Schüler*innen, bekommt man einen Eindruck davon, welche Summen dauerhaft notwendig werden.
Phase 4: Entwicklungsbeschleuniger „eKlausuren“
In den vergangenen Jahren sorgte besonders ein Bereich für einen kontinuierlichen Ausbau der professionellen Lehr-Lern-Strukturen an Hochschulen: eKlausuren. Um vor allem in den gut besuchten Einführungsveranstaltungen der Bachelorstudiengänge den Korrekturaufwand zu reduzieren, versprach man sich von der Etablierung elektronischen Prüfformate eine effizientere Prüfungsorganisation. So wurden die Möglichkeiten untersucht, Lernplattformen auch als Prüfumgebungen zu verwenden, was zum Beispiel mit speziell angepassten Moodle-Umgebungen sehr gut funktioniert. Auch wurden technische Lösungen geschaffen, vorhandene PC-Pools zu temporären Prüfumgebungen umzurüsten, um in Spitzenzeiten möglichst viele Studierende prüfen zu können. Ich möchte die Absicht, eKlausuren zu etablieren, hier nicht inhaltlich bewerten. Unbestritten ist aber ihr positiver Effekt auf die Infra- und Supportstrukturen sowie das fachlichen Wissen der verantwortlichen Hochschulakteure.
Prognose für Schulen:
Die Etablierung von Lernfortschrittskontrollen ist ein Thema, dass in Ruhe diskutiert werden muss. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass prüfungsunabhängige Lernstandskontrollen einen nachweislich positiven Effekt auf das Lernen haben. Gleichzeitig werden mit ihrer Etablierung Strukturen geschaffen, die auch einen Einsatz als vergleichendes Instrument im Sinne eines Klassen-, Schul- oder Landesrankings zulassen. Welche Rolle digitale Lernstandskontrollen im schulischen Unterricht spielen werden und sollen, muss von Expert*innen ergebnisoffen aufgearbeitet werden. Einen positiven Effekt auf die Etablierung digitaler Lehr-Lernsysteme werden sie in jedem Fall haben.
Phase 5: Bedarf an Produktionssoftware, minimaler Kameratechnik und Rechtsberatung
Um didaktisch wirksame Medien für den Einsatz in Hochschulen zu produzieren, braucht es einfach zu bedienende Apps und Programme. Im professionellen Umfeld werden so genannte Autorentools eingesetzt, zum Beispiel iSpring oder Articulate. In Hochschulen, die selten über ausreichend Personal oder Finanzmittel zur Produktion verfügen, kommen meist Programme wie Audacity (Audioaufnahmen), Camtasia (Screencast und Videoschnitt) oder H5P (Interaktion) zum Einsatz. Vor allem die flächendeckende Beschaffung dieser Software stellt eine große Herausforderung dar. So verfügt zum Beispiel die Firma TechSmith, als Anbieter von Camtasia, nicht über ein finanzierbares Volumenlizenzmodell mit guten Konditionen für Bildungsanbieter. Vielmehr platziert sich die Firma als sehr selbstbewusster Marktführer, der Endkunden jährliche Kosten abverlangt und im Gegenzug Jahr für Jahr nur wenige sinnvolle Neuerungen in seine Produkte einarbeitet. Aus der zunehmenden Produktion digitaler Lehr-Lernmedien durch Lehrende und Schüler*innen leitet sich für Hochschulen eine weitere Herausforderung ab: Die rechtliche Absicherung des Einsatzes digitaler Medien in Schulen. Für urheberrechtlich geschützte Materialien wurde durch die Überarbeitung des Urheberrechtes eine stabile Grundlage geschaffen. Anders sieht es aus, wenn zum Beispiel Lehrende eigene Materialien produzieren oder von Schüler*innen erstellte Materialien auch in anderen Klassen einsetzen möchten. Lehrende, die aktuell mit viel Begeisterung Videos produzieren, bewegen sich bei der Verwendung von Bildern oder anderen Grundmaterialien in einem unsicheren Raum. Auch vergessen viele Lehrende die Einverständniserklärungen für die Verwendung von Medien von ihren Lernenden einzuholen. Das schöne Legetrickvideo kann somit zwar als kleine Lerneinheit in der Klasse eingesetzt werden, aber für zukünftige Verwendungen in Folgeklassen fehlt der Lehrkraft dann die rechtliche Absicherung.
Prognose für Schulen:
Mit welchen Apps und welcher Software sollen in Zukunft Inhalte für den digitalen Unterricht produziert werden? Neben der Strukturierung des Unterrichtes und der Ausarbeitung kleiner Lerneinheiten innerhalb der Lernplattformen werden Produkte benötigt, die allen Lehrenden eine einfache Produktion ermöglichen. Auch wenn die begeisterte Lehrerin mit Hang zu Apple-Produkten privat finanzierte Geräte und Apps einsetzt, muss ihr zurückhaltender Kollege auf dem neuen Dienstlaptop Standardsoftware vorfinden, die ihm das Aufzeichnen von Ton- und Videoinhalten ermöglicht. So genannte Screencasts, also einfache Bildschirmaufzeichnungen, sind bei Beginner*innen (und mir :-)) sehr beliebt. Folgerichtig werden in den kommenden Monaten Produkte wie Camtasia und Audacity als Standardangebote geprüft. Etwas nachgelagert wird sich daraus ein erhöhter Beratungsbedarf rund um die Absicherung des Urheberrechtes sowie die Verwendung produzierter Medien ergeben. Es ist davon auszugehen, dass entsprechende Beratungsstellen entstehen werden, ggf. bei den Landesdatenschutzbeauftragten oder in den jeweiligen Kultusministerien.
Entwicklungsperspektive: Hybride Lehr-Lernformen und die Rückkehr in Präsenz
An Hochschulen hat sich in den vergangenen Monaten ein interessanter Effekt eingestellt: Viele Lehrende wollen nicht mehr zurück in den ausschließlich präsenzorientierten Lehrbetrieb. Ihnen scheint der flexible Rahmen ihrer aktuellen Arbeitssituation so gut zu gefallen, dass ihre Bedenken hinsichtlich einer zunehmenden digitalgestützten Lehre einer tendenziellen Akzeptanz gewichen sind. So gehen Hochschulen dazu über, ehemals als Anreiz gedachte Untergrenzen für den eLearning-Einsatz in eine Obergrenze umzuwandeln. Parallel zu dieser Entwicklung wird darüber diskutiert, wie „Hybride Lehrformen“ als Verbindung aus Präsenz- und Online-Angeboten konkret aussehen sollen. Ob nach Corona wirklich eine systematische Änderung unseres Bildungswesens angegangen wird, bleibt abzuwarten. Es steht aber außer Frage, dass uns die Erfahrungen der vergangenen Monate bei der Ausgestaltung wirksamer und moderner Lehr-Lernszenarien einen riesigen Blumenstrauß an guten Beispielen und Stoßrichtungen geliefert hat, die nun aus einer didaktisch zielführenden Perspektive entwickelt werden sollten.
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