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In Pantoffeln begegnet sich jeder auf Augenhöhe. Eindrücke aus meiner Hospitation an der Alemannenschule in Wutöschingen

Bild 1: Herr Ruppaner hat sich viel Zeit für den Besuch von Natalie Hemmerich und mir genommen.

In der vergangenen Woche hatte ich die Gelegenheit, in der Alemannenschule Wutöschingen zu hospitieren und selbst zwei Lerneinheiten, so genannte "Inputs", für Schüler*innen im Alter zwischen 12 und 15 zu unterrichten. Nun stehe ich vor einer mir völlig neuen Herausforderung: In einem Artikel über zeitgemäße Schulen kann ich auf die Formulierung im Konjunktiv verzichten. Welche Entwicklungen ergeben sich, wenn man eine Schule kennengelernt hat, die fast vollständig auf digitale OER-Inhalte aufbaut? Deren Lehr-Lernansatz in den Grundfesten vom Interesse und der Lernbereitschaft ihrer Schüler*innen ausgeht? Und deren Schülerinnen und Schüler wie selbstverständlich Kompetenzen aufbauen, die sie auf ein Leben und Wirken in einer digitalen Gesellschaft vorbereitet? Ich blicke mit gemischten Eindrücken zurück, denn ich muss mir die Frage stellen, ob ich Teil der Lösung oder Teil des Problems bin.

Eine öffentliche Schule und doch ganz anders

Über die Alemannenschule wurde in den letzten Jahren viel berichtet. Nach dem Erhalt des deutschen Schulpreises 2019 waren es wohl vor allem Fernseh- und Zeitungsberichte, die die Schule in der Nähe der Schweizer Grenze bekannt gemacht haben. Im Korsett einer öffentlichen Schule, also ohne zusätzliche Schulgebühren für die Kinder, wurde hier ein Schule umgesetzt, die digitale Medien selbstverständlich einsetzt, deren Lehrkräfte sich als „Lernbegleiter“ verstehen und deren Gebäude im Verständnis eines Co-Working-Space gestaltet wurden.

Die digitale Basis: OER-Materialien jederzeit per bereitgestelltem iPad verfügbar

Es fällt sofort auf: Jedes Kind hat an dieser Schule ein eigenes digitales Gerät. Über das iPad können benötigte Lernmaterialien, der Wochenplan mit den freiwilligen Inputs und Coachingterminen sowie der aktuelle Stand der eigenen Entwicklung in verständlich formulierten Kompetenzrastern eingesehen werden. Die Kosten für die Geräte sowie deren Wartung per JamF-Mobile-Management-System werden als monatliche Mietgebühr an die Familien weitergegeben. Sind aber mit 12 Euro pro Monat fair kalkuliert und sichern jedem Kind ein modernes Gerät, dass nach drei Jahren erneuert wird. Die eigenen Smartphones sind nur in den Mittagspausen erlaubt.

Bemerkenswert ist, dass alle Lehr-Lernmaterialien unter Creative Commons, genauer CC-BY-SA, produziert werden. Als Open Educational Ressource (kurz: OER) stehen sie über die schulinterne Lernplattform DILer jederzeit zur Einsicht und Bearbeitung bereit. Seit letztem Jahr bietet die Schule ihre OER-Materialien auch anderen Schulen und Lehrkräften zur Verwendung an. Auf Anfrage können Lehrende aus anderen Schulen auch eigene Materialien produzieren. Für eine nachhaltige Bereitstellung wurde eigens das „Materialnetzwerk“ als eingetragene, gemeinnützige Genossenschaft gegründet. Die technische Basis der Plattform kommt vom Leipziger Sozialunternehmen Tutory. Vorteile dieser Art der Bereitstellung sind u.a. dass die Inhalte jederzeit überarbeitet werden können. Klassische Schulbücher finden sich in Wutöschingen auch, zum Beispiel als kostenlose Mitnahmeexemplare am Eingang eines der Schulgebäude.

Der Wert von Präsenz? Persönliche Gespräche und gelebte Kooperation

Wenn eine Schule über eine flächendeckende digitale Lehr-Lern-Infrastruktur verfügt und die Lernpartner*innen alle Materialien online finden, was passiert dann in den Präsenzzeiten vor Ort? "Bei all meinen Arbeiten kommen die Kinder zu erst. Es sind die persönlichen Gespräche, die unsere Arbeit in der Schule ausmachen." so Herr Ruppaner (Naja, der Akzent war wohl etwas stärker, als im Zitat, aber als Sachse halt ich mich da mal sehr zurück :-)). Der Betreuungsschlüssel dieser Schule liegt etwa bei 1 zu 14. Jeder Lernbegleiter oder jede Lernbegleiterin steht im engen Kontakt zu den Schüler*innen. Kurze Inputs, deren Besuche freiwillig sind, bieten die Chance für direkten fachlichen Austausch. In so genannten "Clubs" werden freiwillige Aktivitäten, wie Chorgruppen oder die Imkerei, organisiert. Für Gruppenarbeiten oder den Austausch mit anderen stehen überall Sitzecken oder Lernateliers zur Verfügung. Als Rückzugsraum für individuelles Lernen sind spezielle Ruhebereiche vorhanden, wo jedes Kind einen eigenen kleinen Schreibtisch beziehen kann. Während meines Besuches waren diese Schreibtische sehr wechselhaft belegt. Ich hatte den Eindruck, dass die Kinder das gesamte Gebäude für den Austausch, das Lernen und das Treffen von Freunden genutzt haben.

Komplexe Regeln, die das Miteinander definieren

Die Schule ist kein anarchistischer Raum, sondern funktioniert in einem komplexen Geflecht aus Regeln. Bestimmte Räume für bestimmte Tätigkeiten. Auf Pinnwänden sind immer die aktuellen Tätigkeiten der Schüler*innen zu finden. Klare Vorgaben für den Ablauf der Coachings und die Bearbeitung der Kompetenzprofile schaffen Transparenz und Orientierung. Um diese Regeln zu verstehen und anzuwenden, bedarf es dem Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen. Aufgeschrieben sind die vielen Besonderheiten nur selten. Die Basis dieser Schule scheint das permanente Austesten von Spielräumen und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in einem sozialen Mikrokosmos zu sein.

Das neue Gebäude für die Oberstufe: Räume für Co-Creation, einen Marktplatz der Ideen und der stillen Reflexion

Im kommenden Jahr wird das neue Gebäude für die Oberstufe fertiggestellt. Bei der Begehung des aktuellen Rohbaus lässt sich schon erahnen, wie die zu Beginn 40 Lernpartner*innen in Zukunft lernen werden. Ein großer Hauptraum als Marktplatz mit flexiblen Möbeln, eine große Gemeinschaftsküche, mehrere Inputräume, eine Dachterrasse, ein Sportraum für Tanz- und Fitnessprogramme und mehrere kleine Räume, die der Meditation oder dem Gebet gewidmet sind. Hier wurde ein Konzept umgesetzt, dass sich stark an den Grundwerten einer modernen Arbeits- und Kommunikationsumgebung orientiert.

Bild 2: Der Neubau für die Oberstufe soll im März fertiggestellt werden. Hier befinden wir uns auf dem zentralen Marktplatz (Foto: Natalie Hemmerich).

Schulamt, Schulleitung und Rathaus im permanenten Sparring miteinander

Kann eine Schule dieser Art ein Vorbild für andere öffentlichen Schulen sein? Im Gespräch mit dem Kollegium fiel auf, dass viele Fragen der tägliche Schulorganisation durch sehr kreative Auslegungen der offiziellen Regeln gelöst wurden. Aus Brandschutzgründen dürfen keine Sofas in den Schulfluren stehen? Dann gibt es eben keine Flure, sondern großräumige Lernateliers. Im Verlauf meines Aufenthaltes wurde deutlich, dass alle Beteiligten dieser Schule extrem lösungsorientiert arbeiten. Vorgaben von Seiten des Schulamtes wurden immer als Ansatz gesehen, Lösungen im Sinne des eigenen Schulverständnisses zu schaffen. Für mich ist der Vorbildcharakter der Schule daher auch dadurch gegeben, dass alle Beteiligten glaubhaft an einem Strang ziehen. Die Struktur der Schule ist eher die Konsequenz einer klaren Ausrichtung auf die Notwendigkeiten einer Schule, die bei ausbleibendem Erfolg perspektivisch geschlossen werden (könnte).

Die eigenen Inputs zur Mediennutzung und dem digitalen Sozialverhalten

Ein Highlight meines Aufenthaltes waren zwei 45minütige Inputs für Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 12 und 15 Jahren. In der ersten Einheit habe ich am Beispiel von Brawl Stars, Tiktok und Instragram typische Gestaltungsmerkmale von digitalen Programmen vorgestellt, die zu einer wiederkehrenden Verwendung bis hin zur Sucht führen können. Im offenen Gespräch mit den Anwesenden habe ich viel über ihre Gründe die Apps zu nutzen erfahren. In der zweiten Einheit, in der soziale Netzwerke und ihre Bedeutung für die eigene Zufriedenheit, im Vordergrund standen, habe ich versucht ein Bewusstsein für die Bedeutung sozialer Beziehungen aufzubauen. Ich habe bisher noch keine Lehreinheiten für Jugendliche in diesem Alter angeboten. Das gute Gefühl einer neuen Erfahrung war die Belohnung für die Vorbereitung und die Nervosität während der Einheitten.

Bild 3: Mögliches Suchtverhalten bei der Nutzung von Casual Games, wie zB. Brawl Stars? Ein gutes Beispiel bin ich wohl selbst. (Foto: Natalie Hemmerich)

Einfache Antworten auf komplexe Fragen: In Pantoffeln begegnet man sich anders

Viele der Besonderheiten der Schule resultieren aus bewährten Methoden des Alltags, die in ein systemisches Grundgerüst gegossen wurden. Das alle Gebäude nur Barfuß oder in Hausschuhen betreten werden dürfen, erläutert Herr Ruppaner an einem Beispiel. „Wenn Sie einmal ein Gespräch mit einem rechtsradikalen Jugendlichen geführt haben, der seine Springerstiefel aus- und die Pantoffeln anziehen musste, wissen Sie sofort, dass so kommunikativen Hürden abgebaut werden.“ Respekt und gegenseitige Wertschätzung entsteht aus dem Abbau formeller Hürden und Blockaden. Diese Denkweise war für mich als Besucher sehr befreiend, weil sie wirklich erreicht, dass man das erhaltene Vertrauen nicht enttäuschen möchte.

Sind wir für diesen Umbruch bereit? Bin ich für diesen Umbruch bereit?

Im Laufe meines Aufenthaltes sind immer wieder Dinge passiert, die mich erstaunt haben. Schülerinnen und Schüler, die spontan Ideen für eigene digitale Lerneinheiten vorgestellt haben oder freiwillig früher in die Schule gekommen sind, um noch am Chor teilzunehmen. Fremde Menschen, die mich auf der Straße angesprochen haben und wissen wollten, ob die Schule wirklich so gut und so anders sei. Gleichzeitig habe ich mich wiederholt gefragt, ob ich das Konzept der Schule nun besser finde? Ich denke, dass diese Frage falsch ist. Wir begegnen einem Wandel selten mit der Perspektive, dass etwas Neues immer auch ausschließlich besser ist. Je stärker unser Bild von dem "Danach" für uns attraktiv erscheint, umso motivierter sind wir wohl darin, bestimmte Ziele zu verfolgen. Diese Schule erscheint mir aber als ein permanenter Prozess, dessen Stärke darin liegt, dass alle Entwicklungen und Entscheidungen auf das individuelle Wohl der Schülerinnen und Schüler ausgelegt sind. Das ist für mich ein klarer Vorteil. Für mich persönlich bedeutet das aber auch, dass viele Regeln und Strukturen zu Gunsten einer wirklichen Entscheidungsfreiheit außer Kraft gesetzt werden. Das führt zu Unsicherheit, weil ich nicht weiß, was als nächstes passieren wird. Die Lösung für diese Situation kann sein, dass sich eine neue Form von Selbstvertrauen aufbaut: Ich improvisiere nach bestem Wissen und Gewissen und weiß, dass mein Ergebnis gut sein wird.

In diesem Sinne ist diese Schule vielleicht ein große Wette auf die freie Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen. Auf jeden Fall vermittelt sie die Botschaft: “Du bist zu Großem fähig und wir helfen Dir dabei herauszufinden, was das bedeutet!”

PS: Dieser Artikel enthält nun doch einige Aussagen im Konjunktiv. Wer mir die genaue Anzahl nennen kann, wird mit einem Kaffee im Falle eines persönlichen Treffens “bezahlt”.


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